Beinahe ein Jahr ist vergangen seit jenem Urlaub in Dänemark. Wir wollten das Leben am Strand und in Kopenhagen spüren — während meine 94-jährige Großtante Emi zu Hause blieb. Bis dahin war sie tagsüber noch allein in ihrer Wohnung, wir schauten mehrmals täglich vorbei, sorgten für Essen und verbrachten den ein oder anderen Abend gemeinsam.
Doch in unserer Abwesenheit kam alles anders. Mehrere Stürze, ein Infekt, ein rapider Abbau. Das Telefon klingelt im Urlaub ständig: Was tun? Krankenhaus oder zu Hause bleiben?
Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einer Ärztin: „Im Pflegeheim stürzen sie auch — und da haben sie es anschließend nicht immer so gut wie in den eigenen vier Wänden, umgeben von Familie.“
Also wäge ich ab. Krankenhaus bedeutet: bessere medizinische Versorgung, Entlastung für die Familie. Aber auch ein fremdes Umfeld, einsame Nächte und viel Verwirrung für eine 93-Jährige mit Demenz.
Zu Hause heißt: hohe Belastung, vielleicht nicht optimale Versorgung — aber Nähe, Wärme, Vertrautheit.
Ich entscheide mich für Freiheit. Für Emis Freiheit, in ihrem Zuhause zu bleiben.
Nach unserer Rückkehr aus dem Urlaub: fünf Wochen Pflege ohne Pause. Keine Planung hält mehr. Arbeit wird Nebensache. In der ersten Woche fühlt es sich nur schwer und entmutigend an. Doch mit der Zeit verändert sich etwas. Wir beginnen, über die Zukunft nachzudenken und Bilder zu entwickeln, wie wir unser Zusammenleben gestalten wollen.
Daheim geblieben und mit Mut und Mühe neue Freiheit erlangt.
Wir fassen einen Entschluss: Emi soll noch so lange wie möglich zu Hause bleiben können. Also suchen wir Unterstützung.
Und so zieht eine Haushälterin bei uns ein. Für mich fast wie ein lang gehegter Traum aus den Sizilien-Krimis von Andrea Camilleri: eine „Nona“, die sich kümmert, kocht und Nähe schenkt.
Mit ihr gewinnen wir Freiheit — und geben gleichzeitig ein Stück davon ab. Plötzlich leben wir zu viert unter einem Dach. Dazu das tägliche Kommen und Gehen von Verwandten und Helfer:innen. Gut für die Pflege, herausfordernd fürs konzentrierte Arbeiten. Dienstreisen werden zu seltenen freien Abenden. Ruhe auf der Terrasse? Kostbar geworden.
Und doch: Emi wird wieder fitter. Mit viel Geduld und noch mehr Pausen schaffen wir es gemeinsam die Treppen hinunter in den Garten. Dort sitzen wir unter dem Magnolienbaum, genießen Eis und Sonne. Oft auch mit meiner 100-jährigen Oma Maria, die sagt: „Ich helfe euch beim Aufpassen.“ Und gleichzeitig ihre eigene Freiheit im Garten genießt.
Tante (94) und Oma (100) zurück im Garten — gemeinsam Freiheit spüren.
Freiheit ist nie gratis. Jede Entscheidung hat ihren Preis. Doch sie bewusst zu treffen, macht den Unterschied. Für Emi bedeutet Freiheit: Daheim sein dürfen. Für uns heißt es: Verantwortung, Einschränkung — und am Ende auch neue Stärke.
Vielleicht steckt darin ein Impuls für alle, die mit Pflege konfrontiert sind: Traut euch zu entscheiden. Es gibt kein „richtig“ oder „falsch“. Es gibt nur euren Weg — und die Freiheit, ihn zu gehen.
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